Begegnung der anderen Art“

    „Der Grund, warum ich noch einmal an euer Grab zurückgekehrt bin, ist, dass ich euch noch etwas sagen möchte“, beginne ich leise in Richtung der Särge zu sprechen.

   „Ihr habt eure Reise nun beendet, nachdem ihr viel erlebt und euer Leben genossen habt. Ihr konntet kaum damit rechnen, so jung sterben zu müssen. Und vielleicht ist das ja auch der Grund dafür, dass ihr mir bis jetzt so wenig mitgegeben habt, was ich für mein Leben nutzen könnte. Ihr dachtet wahrscheinlich, dass wir alle dafür noch genügend Zeit in der Zukunft hätten. In der Zukunft, wenn wir alle älter wären. In der Zukunft, wenn ihr weniger durch die Weltgeschichte reist und euch nicht in erster Linie um euch selber kümmert, sondern mir etwas von eurem reichhaltigen Erfahrungsschatz zukommen lasst.

   Tja, diese Zukunft gibt es jetzt aber leider nicht mehr und ich muss - ins kalte Wasser geworfen - nun mein eigenes Leben in die Hand nehmen. Aber ich weiß doch gar nichts vom sogenannten wirklichen Leben! Die wichtigen Entscheidungen habt ihr mir bisher doch immer abgenommen. Ich war zwar immer gut behütet, aber ohne Eigenver-antwortung. Ich habe das Gefühl, dass ich vor dem Nichts stehe. Wie soll das alles weitergehen?“, frage ich verzweifelt in Richtung der Särge und die Tränen laufen währenddessen wieder über meine Wangen.

   „Das Erste, womit ich jetzt also eigenverantwortlich in Berührung komme, ist der Tod! Verbunden mit dem stechenden Gefühl der Einsamkeit, welches mich umgibt, wenn mir bewusst wird, dass es euch nie mehr in meinem Leben geben wird. Und meine Verzweiflung und die Ohnmacht über die Erkenntnis, dies akzeptieren zu müssen, raubt mir fast den Atem.“

   Plötzlich bemerke ich eine Bewegung links neben mir. Als ich mich zur Seite drehe, sehe ich etwas, von dem ich nicht glauben kann, dass ich es sehe. Es sieht aus wie - ein Geist, oder besser gesagt - wie eine Art Fee? Klein, dicklich und mit roten Locken auf dem Kopf. Hinzu kommt eine Aura, die wie ein helles silbernes Licht ihren Körper umgibt. Ich bin so erschrocken, dass es mein erster Impuls ist, sie wegstoßen zu wollen. Dadurch aber, dass sie anscheinend nicht aus Materie besteht, greife ich voll ins Leere, verliere das Gleichgewicht und kann mich gerade noch mit fuchtelnden Armen und einem Schritt nach vorn davor retten, in dem Grab meiner Eltern zu landen.

   Das ist jetzt bereits die zweite Adrenalin-Bombe, die innerhalb kürzester Zeit meinen Blutdruck ins Universum schießen lässt. Denn auf die Nachricht, dass meine Eltern bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt waren, hatte mein Körper auf ähnliche Weise reagiert und ich wäre beinahe einem Herz-Flickflack zum Opfer gefallen. Ich versuche mich aber wieder zu sammeln und schaue mir dieses vor mir stehende Wesen etwas genauer an. Ich sehe ein schimmerndes, verschmitztes Lächeln in ihren großen, blaugrünen Augen. Offenbar hatte sie mit meiner Reaktionen gerechnet.

   „Wie, du stehst mit nichts da? Du hast doch dich und deine helle Seele?“, plappert sie unvermittelt los.

   Oh, sprechen kann sie auch noch. Ich reagiere darauf wohl mit einem so dämlichen Gesicht, dass dieses `feenartige´ Wesen lachen muss. Ich verstehe nur Bahnhof und 'h' und 'ä' sind die einzigen beiden Buchstaben, die ich einigermaßen sinnvoll zu einem „Hä?“ aneinanderreihen kann. Verunsichert schaue ich mich um, ob ich vielleicht gerade das Opfer der Versteckten Kamera werde, weil mir die ganze Situation mehr als suspekt erscheint. Da ich keine Kamera in einem Busch erspähe - was im Zusammenhang mit einer Beerdigung auch mehr als pietätlos wäre - frage ich mich, wer mich denn da sonst bitte schön verarschen möchte?

   Was quatscht die denn da? Was meint sie mit `heller Seele´? Ist die irgendwo ausgebrochen und womöglich gefährlich? Ich checke sie kurz nach Waffen ab, während ich gleichzeitig nach einem Stock oder etwas ähnlichem zur Abwehr Ausschau halte, falls sie auf mich losgehen sollte.

   „Aber fangen wir doch von vorn an“, spricht sie wieder. „Hallo Clara, ich bin deine gute Fee. Aber bevor du dich auf die falsche Fährte begibst, sage ich dir gleich, dass ich nichts mit diesem `Gute-Fee-Geschwader´ zu tun habe, das du aus Märchenbüchern kennst. Ich bin nur deine ganz persönliche Fee. Ich weiß, dass dich mein Erscheinen überraschen und auch überfordern mag, aber du wirst es verstehen lernen - auch, wenn du das im Moment noch nicht glaubst.“

   Die gute Fee, … was? Wie sollte ich das denn auch glauben, frage ich mich. Auch wenn ich noch jung bin, aber aus dem Alter in dem ich Feen als existent in Betracht gezogen habe, bin ich nun wirklich raus. Diese ganze Beerdigungsgeschichte muss mich psychisch dermaßen mitgenommen haben, dass ich nicht mehr klar bei Verstand bin und ich mir dies alles hier nur einbilde! Ich gehe jetzt nach Hause und bevor ich heute Abend zum Leichenschmaus antrete, lege ich mich erst einmal kurz hin und schlafe mir meine Hirngespinste aus dem Kopf, fasse ich den Entschluss und will mich auf den Weg machen.



 

Kawumm“

    „Und, Cengiz. Haste Speckward inzwischen endlich wiedergefunden?“

   „Ich nicht. Aber Clara hat letztens 'ne Runde mit ihm gekuschelt“, deutet Cengiz auf mich.

   Die Blicke von Seppi, Socke und Dizzy richten sich erstaunt auf mich und die drei scheinen eine Erklärung zu erwarten.

   „Er mag mich halt“, entgegne ich lapidar, ohne die Situation weiter zu erläutern.

   Jetzt sind sie es, bei denen so etwas wie Bewunderung zu erkennen ist. Speckward scheint nämlich nicht unbedingt der umgänglichste Zeitgenosse zu sein, wie ich anhand der erschrockenen Reaktion von den Jungs auf meine Begegnung mit dem „Teufel auf vier Pfoten“ - wie Seppi ihn liebevoll nennt - vermute. Und das Wort `kuscheln´ in Zusammenhang mit diesem `Ninja-Nager´ zu bringen, scheint für die Jungs gleichbe-deutend mit der Quadratur des Kreises zu sein.

   „Ok“, wechselt Dizzy das Thema. „Ich habe echt geiles Dope von Hacki bekommen. Das wird euch umhauen.“

   Aha, Hacki, denke ich. Das wäre dann wohl Zwerg Nummer fünf.

   „Ja super, dann hol' ich mal die `Wumm´“, bewegt sich Cengiz langsam in Richtung Regal und nimmt etwas in die Hand, wovon ich die ganze Zeit gedacht habe, es wäre eine viereckige Glasvase.

   Und ich habe mich schon gefragt, warum so ein Freak wie er überhaupt einen Deko-Artikel dieser Art in seiner Wohnung aufbewahrt. Erst jetzt sehe ich, dass die Vase halb mit Wasser gefüllt ist und oben ein runder Korkdeckel mit drei Öffnungen das Teil verschließt. Socke wickelt einen braunen Klumpen aus einer Alufolie, den er anschließend mit seinem Feuerzeug ankokelt und dann auf einem DIN A4 Blatt zerbröselt. Währenddessen hält Cengiz mir die Vase vor die Nase und erklärt mir die Funktion der drei Löcher in dem Korken.

   „Aus diesem Röhrchen“, zeigt mir Cengiz eine Art Gummischlauch, welches aus dem Korken hervorragt, „zieht man den Rauch in sich hinein.“

   Die verniedlichende Definition `Röhrchen´ halte ich für ziemlich unpassend, da dieses Gummiteil dick wie ein Daumen ist und man sich damit unzweifelhaft eine Mega-Rauchwolke in die Lungen schießt.

   „Während man zieht“, fährt er fort, „hält man mit dem Daumen dieses Loch hier zu.“

   Er zeigt auf das kleinere Loch, das direkt neben der dritten Öffnung ist, in welches ein pfeifenkopfartiges Gebilde - in Fachkreisen 'Chillum' genannt - gesteckt wird. Das Teil hat oben ein kleines feines Sieb, auf das Socke gerade das zerbröselte Dope legt. Cengiz erklärt mir weiter die Funktionsweise der ominösen Glasvase:

   „Du ziehst so lange an dem `Röhrchen´, bis du merkst, dass es nicht mehr geht. Dann nimmst du den Daumen von dem Loch und durch den entstandenen Unterdruck, knallt dir jetzt das Glück tief in deine Lungen. Im ersten Moment glaubst du zwar du müsstest ersticken, aber das Gefühl hält nicht lange an und weicht sehr schnell der Entspannung.“

Um ein entsprechendes Ambiente bemüht, zündet Dizzy eine Kerze an, die er auch aus dem Regal geholt und auf den Tisch gestellt hat. Nach seinen Erklärungen baut mir Cengiz wieder so einen `Kinder-Lolli´, wie er den `Stick´ nennt, den er mir beim letzten Mal schon gebastelt hatte und reicht ihn mir mit den Worten:

   „Für den Anfang ist es besser, wenn du erst einmal hierbei bleibst.“

   „Ja klar“, sag' ich dankbar, weil mir auch bewusst ist, dass mich die sogenannte `Kawumm´ komplett aus dieser Welt schießen würde. Cengiz denkt mit - finde ich super. Er ist echt nett, geht es mir durch den Kopf, als ich mir den `Lolli´ dieses Mal selbständig anzünde.

   „Socke, du hast die Ehre“, eröffnet Cengiz nun die Zeremonie der Profis.

   Ich ziehe vorsichtig an meinem Joint, da ich nicht möchte, dass mich im Beisein der anderen abermals ein Hustenanfall heimsucht und so mein `Rookie-Status´ über die Maßen deutlich wird. Gespannt beobachte ich, wie Socke der Aufforderung von Cengiz nachkommt und das Dope anzündet. Er zieht knapp 5 Sekunden an dem Röhrchen, bis er den Daumen von dem Loch nimmt.

   „KAWUMM!“, rufen Cengiz, Dizzy und Seppi, wie aus einem Mund und fangen zu lachen an.

   Socke atmet langsam aus und seine Augen füllen sich dabei mit Tränenflüssigkeit. Langsam lässt er sich nach hinten ins Sofa fallen. Die anderen tun es ihm gleich und nachdem alle das Vergnügen hatten, kehrt eine angenehme Stille ein. Auch ich sitze auf meinem Sessel und fühle mich pudelwohl. Alle hängen erschlafft auf ihren Plätzen, bis Socke sich zur Musikanlage schleppt und eine mitgebrachte CD von Pink Floyd auflegt. Als die Musik losgeht, starre ich wieder auf dieses merkwürdige Hallgerät von Cengiz' HiFi Anlage. Die nach innen zulaufenden Leuchtringe, die ich letztens schon beobachten konnte, vermitteln einem wirklich das Gefühl, eingesogen zu werden. Von diesen hellblauen, elliptischen Bewegungen wie hypnotisiert, befinde ich mich auf einer Reise zu einem unbekannten Ort. Wenn jetzt noch ein weißes Licht vor mir erscheint, befürchte ich, dass es das dann wohl war mit Clara.

   Dizzy, der ebenfalls in diesem Gerät gefangen scheint, meldet sich zu Wort:

   „Boah, ist das krass. Ich bin gerade im Time Tunnel.“

   Das war das Stichwort! Alle, die wir hier zugedröhnt sitzen, können uns nicht mehr halten und prusten los. Mich eingeschlossen. Von da an bekommen wir einen Lachflash nach dem anderen. Eigentlich gibt es keinen Grund, aber irgendwie sind die Rollos an Cengiz' Fenstern extrem lustig. Egal wer was sagt oder eine Bewegung macht - es ist zum Brüllen komisch. Zu allem Überfluss flitzt Speckward plötzlich über die Regalbretter. Es scheint allerdings, dass er heute etwas wackelig auf den Beinen ist, da er bei dem Versuch seinen massigen Körper eine Etage höher auf das nächste Brett zu wuchten ins Schlingern gerät und einen Absturz gerade noch verhindern kann.

   „So wie der aussieht, hat sich das pelzige Monster doch wieder jede Menge von dem Rauch reingepfiffen, den wir eben ausgeatmet haben“, krächzt Seppi und windet sich dabei vor Lachen.

   Auch ich kann mich kaum beruhigen, halte mir den Bauch, der schon richtig weh tut und habe das Gefühl, dass ich gleich in die Hose mache, wenn das hier nicht sofort aufhört. Nachdem sich meine Bauchmuskeln wieder einigermaßen entkrampft haben, sage ich:

   „Stimmt eigentlich! Speckward muss doch wirklich von dem ganzen Gras, das Cengiz hier tagtäglich verdampft, dauerbreit und in höchstem Maß drogenabhängig sein. Was würde ich darum geben zu wissen, was der gerade über uns denkt. So wie er guckt, kann das nichts Gutes sein.“

   Ich bereue diesen Spruch, weil er zum nächsten Lachflash führt. Dieses Mal wäre ich es dann aber selbst schuld, wenn meine Befürchtung eintreten würde und sich meine Blase vor Lachen unkontrolliert entleeren sollte. Gott sei Dank kommt es nicht so weit und langsam beruhigen wir uns wieder.

   „Wie wäre es denn, wenn wir uns mal irgendwo was zu essen besorgen?“, schlägt Cengiz vor. „Kiffen macht hungrig!“

   Oh ja, da hat er recht, denke ich. Ein halbes Schwein auf Toast wäre jetzt genau das Richtige.

   „Lasst uns zur Pommesbude gehen“, schlägt Socke vor.

   „Gute Idee!“, ertönt es unisono.

   „Zu welcher denn?“, fragt Dizzy. „Zu der hier um die Ecke?“

   „Ne, bloß nicht!“, reagiert Seppi ziemlich aufgebracht. „Da krieg' ich echt nichts mehr runter, seit ich beim letzten Mal gesehen habe, wie der Kollege die Wurst beim Schneiden mit derselben Hand festgehalten hat, mit der er sich zwei Sekunden vorher am Sack gekratzt hat. Und das IN der Hose und NICHT außerhalb. Boah ey, nee … das geht echt nicht.“


 

Die Spaghetti Affäre“

   „Ist zwischen uns gestern eigentlich was gelaufen“, deute ich mit meiner Hand zuerst auf mich, die immer noch in Unterwäsche auf einem fremden Bett sitzt, und dann auf ihn, der auch nur leicht bekleidet neben mir hockt.

   „Soll das ein Scherz sein?“, sieht er mich mit großen Augen an. „Nachdem du dich wie eine Ausgehungerte über die Spaghetti hergemacht hast, bist du nach knapp der Hälfte davon wortlos mit dem Kopf vornüber in den Teller gefallen.“

   Er hält kurz inne, weil er lachen muss und zeigt mir ein Handyfoto von der regungslos in einem Teller Spaghetti liegenden Clara. Wenn der Anblick nicht so traurig wäre, müsste ich auch lachen.

   „Trisch und ich haben dich danach erst mal von der Tomatensoße befreien müssen.“

Ich fasse mir in die Haare und spüre getrocknete Soße.

   „Gut, die Haare zu waschen haben wir nicht mehr geschafft! Aber zumindest hat es Trisch, die dann aber auch vom Hof geritten ist, irgendwie hinbekommen dich auszuziehen und in mein Bett zu legen.“

   „Oh Gott! Das tut mir total leid!“

   Ich spüre, wie mein Gesicht die Farbe der Tomatensoße annimmt, in die ich heute Nacht gefallen bin.

   „Ich schäme mich so, Levin“, sage ich mit gesenktem Kopf.

   „Keine Sorge, das macht nichts. Ich fand das Bild von dir mit deinen Kopf im Teller sehr amüsant! Steht schon auf YouTube“, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht.

   „Echt?“, frage ich ihn mit der Naivität, die mir scheinbar wie die Pest am Arsch klebt und ich merke, wie Panik in mir hoch steigt.

   „Nee, war nur Spaß. Was in Las Vegas passiert, bleibt auch in Las Vegas! Ehrensache.“

   Was ist bloß aus mir geworden, geht es mir durch den dicken Kopf. Vor ein paar Tagen war ich noch die kleine Clara - die Unschuld vom Lande. Und jetzt? Ich kiffe, saufe wie ein Loch, lande `rotzenvoll´ um vier Uhr morgens mit meinem Schädel in einem Teller Spaghetti mit Tomatensoße, wache leicht bekleidet im Bett eines fremden Mannes auf und habe da nur ein schwarzes Loch, wo normalerweise die Erinnerung wohnt. Ich erkenne mich kaum wieder.

   „Ich würde mich freuen, wenn du noch ein bisschen bleibst“, sagt Levin.

   „Ich würde dich gerne näher kennenlernen.“

   Aha, noch näher? Aber warum nicht, denke ich. Ich kann jederzeit gehen, wenn ich will. Außerdem müsste ich lügen, wenn ich sagen würde, dass mir Levin nicht gefällt.

   Nachdem der Kaffee nun seine volle Wirkung entfaltet hat, bin ich gleich entspannter und schaue mich in dem Zimmer um. In der hinteren linken Ecke entdecke ich die Fee, wie sie schadenfroh lächelnd auf einem Sessel sitzt. Mit einem Blick signalisiert sie mir ihr Wohlwollen. Ist schon nicht unpraktisch, wenn man mit jemanden telepathisch in Kontakt treten kann. Auf diese Weise gibt sie mir auch zu verstehen, dass ich dringend eine Dusche bräuchte. Ich rieche kurz und unauffällig an mir und bemerke, dass ich stinke wie ein trächtiges Otterweibchen. Tja, die Mischung aus Schweiß und Tomatensoße ist halt kein Aphrodisiakum. Levin unterbricht das Gespräch mit Joy, als hätte er uns belauscht:

   „Wenn du möchtest, kannst du meine Dusche benutzen, um dich frisch zu machen und die restliche Soße aus deinen Haaren herauszuwaschen.“

   Diesen rettenden Strohhalm ergreife ich dankbar und Levin zeigt mir, wo das Bad ist. Der Hammer! Das könnte eine Musterdusche aus der Zeitschrift SCHÖNER WOHNEN sein. Sehr geräumig - und die sanitären Anlagen sind vom Feinsten. Aber auch den Rest der Möbel in seiner Hütte hat er mit Sicherheit nicht von POCO, denke ich, als ich sein Badezimmer betrete. Ich frage mich, was für einen Job er hat, um sich all diesen Luxus leisten zu können. Aber was geht es mich an?!


 

Kunst und Koks“

 „Liebe Naomi. Da wir jetzt unter uns sind, kann ich dir nun endlich dein Geburtstagsge-schenk überreichen“, tönt Markus.

   Er greift in die Tasche und holt eine kleine Dose mit einer Schleife zum Vorschein.

   „Bitteschön, nur für dich. Alles Gute zum Geburtstag!“

  Ich bin gespannt, was sich darin befindet. Zu meiner Überraschung holt Naomi eine Tüte mit weißem Pulver heraus und präsentiert sie in ihrer Hand.

   „Na bitte. Dann kann die Party jetzt richtig losgehen.“

  Ich beobachte Naomi, wie sie in dem dämmrigen Licht einen Teil des weißen Pulvers auf einem Spiegel, den sie aus ihrem Handtäschchen gezaubert hat, zu zwei gleich-großen Linien formt und ungeniert mit einem eingerollten Hunderter in ihre Nase zieht. So kenne ich das nur aus Filmen. Ich dachte eigentlich, es wäre ein Klischee - das mit dem `Hunni´ und dem Spiegel. Aber da kein Regisseur „Film ab“ brüllt, wird das im richtigen Leben wohl auch so gemacht.

   „Mach doch mal einer die Musik lauter!“, brüllt sie nach der scheinbaren Stärkung quer durch den Raum.

   „Bist du sicher, dass du es nicht ausprobieren möchtest?“, flüstert mir Levin wieder ins Ohr und deutet mit seinem Blick auf die Dose, die Naomi auf dem Tisch hat stehen lassen. „Ich finde, du solltest auch ein Näschen nehmen und danach gehen wir zu mir und machen es uns gemütlich.“

   Ich denke zwar kurz über Niklas' Worte von vorhin nach, komme aber zu dem Schluss, dass ich nur einmal lebe und es ja auch nicht gefährlich ist. Man muss nur die Kontrolle behalten. Und das kann ich ja. Die Kontrolle zu behalten ist eine meiner leichtesten Übungen, sagt mir mein Champagner getränktes Hirn.

  „Wir fangen mal klein an“, sagt Levin und baut nur eine und auch kürzere Linie, als Naomi es getan hatte.

   Mutig ergreife ich den Geldschein und ohne noch weiter darüber nachzudenken ziehe ich mir das Zeug in den Schädel. Ich schnappe nach Luft, Tränen schießen mir in die Augen und ich bekomme einen leichten Hustenanfall. Das fühlt sich aber mal ganz anders an, als wenn ich Nasentropfen nehme, denke ich, nachdem das Pulver in meinem Atmungsorgan verschwunden ist. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass sich sofort eine Wirkung einstellt. Aber es passiert erst einmal - nichts! Hm, denke ich. So wild ist es ja gar nicht und lächle Levin an.

   In den nächsten Minuten planen wir den weiteren Verlauf des Abends und Levin sagt, dass wir bald mal zu ihm fahren sollten, als sich plötzlich etwas in meinem Körper zu regen beginnt, das ich vorher in dieser Form noch nie erlebt hatte. Mein Mund und mein Rachen fühlen sich merkwürdig an. Trocken und wie betäubt. Und im Gegensatz zum Kiffen, wobei eher ein Entspannungszustand die Folge ist, fängt jetzt mein Herz an zu rasen und ich habe Angst, dass mein Blutdruck mir die Adern platzen lässt. Eine innere Gänsehaut lässt meinen Körper zu brodeln beginnen und ich fühle mich, als ob ich sechs Richtige mit Zusatzzahl im Lotto hätte.

  „Und jetzt sag mir, dass du nicht hellwach bist“, lächelt Levin mich an, der die Veränderung meines Zustandes bemerkt zu haben scheint.

  Mit großen Augen starre ich ihn an und habe wirklich das Gefühl, ich wäre neu geboren. Die leichte Müdigkeit, die ich eben nach den geschätzten 15 Gläsern Champagner kurzzeitig verspürt hatte, ist auf einmal wie weggeblasen.

   „Alles ist gut! Lass es noch ein wenig wirken, dann geht es dir richtig gut“, verteilt Levin Tipps.

  Das Herzrasen macht mir zwar ein wenig zu schaffen, aber als ich mich im Saal umschaue, kommt es mir so vor, als wären meine Sinne geschärft. Mein Kopf scheint klar wie nie und ich spüre förmlich das Blut durch meine Adern fließen. Jetzt hält es mich kaum auf meinem Stuhl und ich sprühe vor Tatendrang. Eine gewisse Euphorie darüber, dass ich lebe, macht sich in mir breit. Ich habe zwar nur die halbe Menge durchgezogen, aber es funktioniert trotzdem. Kaum vorstellbar, wie es wäre, wenn ich Naomis Portion verputzt hätte.

   „Ich will tanzen!“, sage ich überschwänglich zu Levin.

 „Nene, komm! Lass uns lieber von hier verschwinden und heb' dir deinen Bewegungs-drang für später auf!“, grinst er mich spitzbübisch an.  



 

Konspiratives Treffen am Bahnhof“ 

   „Hallo Clara, hier ist Markus. Du hast ja sicherlich schon gehört, was mit Levin passiert ist“, sagt er aufgeregt.

  „Hi Markus. Ne hab ich nicht. Ich hab ihn die ganze Zeit anzurufen versucht, aber er war nie zu erreichen. Freitag stand ich sogar vor seiner Tür. Aber er war nicht da. Was ist denn passiert?“

  „Das wundert mich nicht, Clara. Die haben Levin am Freitag hochgenommen und er sitzt in U-Haft. Ich muss dich sehen! Kannst du in einer halben Stunde am Bahnhof sein? Bitte!“

   „Was? Levin sitzt im Knast? Und was kann ICH da machen?“, frage ich überrascht.

  „Ich kann dir das am Telefon nicht erklären. Ich brauche deine Hilfe. Bitte komm zum Bahnhof, misch' dich in der Wartehalle unters Volk und warte bis ich dich anspreche.“

Klick und aufgelegt.

   Ja, bin ich denn Mutter Teresa? Interessiert es denn keinen, wie es mir geht? Lasst mich doch alle mit eurem ganzen Scheiß in Ruhe, denke ich mir, als ich wütend das Telefon beiseite lege. Neben mir taucht Joy auf, die ich das ganze Wochenende, seit ich von Levin zurück war, nicht zu Gesicht bekommen hatte:

   „Wir wissen doch beide, dass du hingehen wirst!“

   Ich gehe nicht darauf ein und frage mich mehr selbst:

   „Was will er denn von mir? Wie soll ich ihm denn helfen können?“

   „Du weißt, es gibt nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden. Na komm, zieh dir schon die Schuhe an und marschier' los!“, befiehlt sie mir.

  Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch schnappe ich meine Umhängetasche, mache was Joy mir gesagt hat und verlasse das Haus. Ich steige in die Straßenbahn und denke den ganzen Weg darüber nach, was Markus von mir wollen könnte. Am Bahnhof angekommen, steige ich aus, kauf' mir bei Subway ein Baguette und mische mich unters Volk der Reisenden - so wie Markus es sagte. Nach einer Weile spüre ich eine Berührung auf meiner Schulter und höre die Stimme von ihm:

  „Dreh' dich nicht zu mir um und geh' ganz entspannt weiter! Danke, dass du gekom-men bist.“

     „Was ist denn nur los?“, zische ich.

   „Da Levin außer Gefecht ist und ich wahrscheinlich auch unter Beobachtung stehe, muss jemand mit weißer Weste die Ware zum Empfänger bringen“, flüstert er mir ge-heimnisvoll zu, während wir versuchen so unauffällig als möglich durch die Menschen-menge zu gehen.

    „Die Ware, was für eine Ware?“, flüstere ich zurück nach hinten.

   „Hör zu! Bist du bereit etwas für mich und unsere Clique zu tun?“, versucht er mich moralisch zu ködern.

     „Äh, ja, ...ok“, antworte ich, „ihr könnt ja nichts für Levins Situation.“

     „Naja, das stimmt nicht so ganz!“, erwidert Markus.

     „Wie? Was soll das heißen?“, frage ich ihn verwirrt und will mich zu ihm umdrehen.

   „Hey, nicht umdrehen! Das erkläre ich dir später. Im Moment ist es das Wichtigste, dass du uns hilfst. Öffne mal deine Tasche, Clara! Aber so, dass es niemand sieht. Ich stecke dir dann ein Kuvert mit einem Schlüssel und einem Zettel hinein, wo drauf steht, was du zu tun hast. Der Schlüssel passt zu einem der Schließfächer hier im Bahnhof und auf dem Zettel stehen eine Adresse und weitere Anweisungen. Der Rest ergibt sich dann von allein.“

   Ich spüre wie mir Markus klammheimlich etwas in die Tasche steckt und danach mit einem „Danke“ nach links abbiegt. Die stecken da alle mit drin? Aber worin stecken sie denn? Klar! Irgendetwas mit Drogen muss es wohl sein, stelle ich entgeistert fest. Ich gehe aufs Bahnhofsklo, schließe mich ein und hole das Kuvert aus der Tasche. Neben dem Schlüssel finde ich den Zettel, auf dem die Adresse des Empfängers und die von Markus erwähnten Anweisungen zu lesen sind: 

 

  • Neusser Straße 178.

  • Bei Esser klingeln.

  • Ware abliefern und anderes Päckchen in Empfang nehmen.

  • Umgehend mit M. Kontakt aufnehmen und das Päckchen übergeben.

  • Der Empfänger wird dir 250 Euro für deine Dienste geben.

  • Sei vorsichtig!!

  • Lerne die Anweisungen auswendig und vernichte dann diesen Zettel!!

 

Ok. Ich hebe meinen Kopf und starre auf die mit obszönen Sprüchen beschmierte Toilettentüre. Die Situation eben mit Markus in der Bahnhofshalle habe ich noch als Spiel aufgefasst. Aber jetzt, nachdem ich den Zettel gelesen habe und das kalte Metall des Schlüssels in meiner Hand spüre, wird mir klar, wie ernst und prekär dieses Spielchen in Wirklichkeit ist. Drogenhandel ist ein Verbrechen, das schwere Konse-quenzen zur Folge hat, wenn man erwischt wird. Also sollte ich schleunigst den Zettel das Klo hinunterspülen und Markus den Schlüssel zurückgeben, wenn ich mir nicht meine Zukunft verbauen will. Nur was hindert mich daran? Irgendetwas in mir sagt:

   „Tu es! Es wird schon gut gehen.“


 

Wie in Chicago“

   „Hi Mikey, sorry, aber ich muss mal ganz dringend dein Bad benutzen“, sind meine ersten Worte, als Mikey die Tür öffnet.

    „Ja, ok. Hier links.“ Ich stürme in sein Badezimmer und kann mich endlich erleichtern.

   „Mboah, tut das gut“, sage ich auf diesem verseuchten Single-Männer-Klo hockend - ohne allerdings die Brille zu berühren.

  Ich stütze mich mit einer Hand an der Wand ab, was ich schon als eklig genug empfinde, pinkel' mir die Seele aus dem Leib und denke, dass so viel Flüssigkeit doch unmöglich aus einem einzelnen Menschen herauskommen kann. Es will gar nicht mehr aufhören und meine Beine werden langsam schwer. Ich bekomme Angst, dass sich gleich ein Krampf anbahnen könnte, was die ohnehin schon unschöne augenblickliche Situation für mich zur Katastrophe werden lassen würde. Immer noch bei dem Versuch in diesem `Bad des Grauens´ nichts mit irgendeinem Fleckchen meiner nackten Haut zu berühren - da ich ansonsten morgen einen Termin bei einem Dermatologen machen müsste - wird die Handhabung des Klopapiers zu einem wahrlich akrobatischen Akt. Mich langsam aus dieser Twister-Stellung befreiend, höre ich, wie es an der Wohnungstür klingelt.

     Nachdem Mikey geöffnet hat, poltert irgendein Honk sofort los und macht Lärm wie eine Horde fanatischer Hooligans, die nach einem verlorengegangenen Fußballspiel ihren Frust abbaut.

    „Du dummes kleines Arschloch!“, höre ich ihn schreien. „Du schuldest mir noch 'ne Stange Geld, du Drecksack. Verarschen kannst du andere!“

   Langsam und leise ziehe ich mir die Hose hoch. Was Mikey dem Wahnsinnigen antwortet, kann ich nicht verstehen. Denn er redet sehr leise und versucht scheinbar ruhig zu bleiben.

     „Vergiss es, du Penner! Ich mach dich platt!“, pöhlt sein Gegner weiter.

   Ich ziehe es vor, ruhig auf dem Klo zu verharren und hoffe, dass sich die Situation nebenan von alleine - und vor allem friedlich regelt, da mir die Atmosphäre sehr aggressiv erscheint. Mein Herz ist mir nicht nur in die Hose gerutscht, sondern ich glaube, dass es gar nicht mehr schlägt. Das kann zwar eigentlich nicht sein, da ich schließlich aufrecht stehe und auch weitere Vitalfunktionen aufweise. Beispielsweise die, kniend an der Badezimmertüre zu lauschen. Ich bekomme allerdings nur wenig davon mit, was in dem anderen Raum vor sich geht und gesprochen wird. Aber ein paar bruchstückhafte Sätze dringen doch zu mir durch. Scheinbar hatte ich mit meinem Gefühl recht, was Mikey und seine Verschlagenheit betrifft. So wie es aussieht, hat er diesem Vandalen Geld unterschlagen oder irgendwie anders über den Tisch gezogen. Dieser ist auf jeden Fall mächtig anpisst und sieht sich scheinbar dazu veranlasst, Mikeys Wohnung neu `einzunorden´, denn ich höre lautes Gepolter. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Mikey wohl auch versucht zweigleisig zu fahren. Zum Einem für Sedal, aber offensichtlich auch für das Konkurrenzunternehmen dieses schlecht gelaunten Kollegen zu dealen.

    „Scheiß auf Sedal! Wir waren uns doch einig, dass du meine Sachen vertickst“, höre ich ihn brüllen.

   Hoffentlich ist Mikey schlau genug, mich da 'rauszulassen und jetzt keine Bemerkung darüber zu machen, dass ich jenseits der Zimmerwand auf dem Klo hocke und die ganze Situation mitbekomme.

   „HEY ALTER, BLEIB COOL! WAS SOLL DER SCHEISS MIT DEM MESSER?“, ruft Mikey auf einmal ziemlich laut und aufgeregt.

   Großer Gott, wo bin ich denn hier hineingeraten? Was mache ich nur? Während ich mir diese ernsten Fragen stelle, ist drüben ein lautstarkes Handgemenge im Gange. Es klingt, als falle etwas zu Boden und zerbricht. Ein bedrohliches Rumpeln und Krachen ist zu hören. Ich schrecke von der Türe zurück, hocke mich ungeachtet des eklig versifften Bodens in die hinterste Ecke des Badezimmers, halte meine Knie fest und wippe hospitalistisch hin und her, während ich vor Angst mit den Tränen kämpfe. Das ist echt nicht mehr lustig. Etwas Schlimmes passiert gerade im Nebenzimmer, das spüre ich! Was mache ich nur? Soll ich eingreifen?

    „Bist du irre?“, fragt die Fee, die wie aus dem Nichts plötzlich wieder neben mir steht.       „Nachher fällt der Verrückte auch noch über dich her. Das da drüben ist kein Spiel!“

   „Ich will hier nur raus!“, jammer ich und spüre, dass ich den Kampf gegen die Tränen verloren habe.

   Das Nächste, was ich von draußen höre, ist das laute Geräusch der zuknallenden Wohnungstür, das mich zusammenzucken lässt. Ich hatte vorher noch nie solche Angst. Nach einer Zeit beängstigender Stille in der Wohnung, höre ich die Stimme von Joy, die flüstert:

    „Ok, es ist vorbei. Du kannst dich wieder bewegen.“

   Sie hat Recht. Es herrscht Totenstille und ich hoffe, dass dies nicht die zutreffende Definition dieser geräuscharmen Situation ist.

    „Ich muss jetzt wissen, was passiert ist!“

  Vorsichtig öffne ich die Badezimmertüre und schleiche ins Wohnzimmer. Vor mir offenbart sich ein Bild der Verwüstung. Umgeworfene Möbel, zerbrochenes Glas und Blut. BLUT? Wo kommt das denn her?

    „Mikey?“, rufe ich zögerlich. „OH GOTT!“

   Auf dem Fußboden sehe ich Mikey in einer Blutlache liegen. Er bewegt sich nicht mehr! Ach du Scheiße! Was denn jetzt? Mein erster Impuls ist es, fluchtartig die Wohnung verlassen zu wollen. Aber Joy steht breit in der Tür, schüttelt den Kopf und hindert mich an meinem Vorhaben. Ich schließe meine Augen und versuche mich zu besinnen. Ich gehe zu Mikey und ertaste mit zitternden Händen seinen Puls. Er lebt noch! Zum Glück! Er hat eine große klaffende Wunde auf seiner linken Gesichtshälfte und er muss auch in Höhe des Bauchnabels eine Verletzung haben, denn sein T-Shirt ist an dieser Stelle blutgetränkt. Wie ernst es ist, kann ich als Laie nicht beurteilen.

    „Was zum Teufel soll ich denn jetzt machen?“, frage ich Joy verzweifelt.

   „Wenn du jetzt einen Krankenwagen rufst, bist du denen eine Menge Antworten auf unbequeme Fragen schuldig. Das ist dir schon bewusst, oder?“

   „Ja, aber ich muss ihm doch helfen“, sage ich mit unsicherer Stimme.

   „Was gäbe es denn sonst noch für Alternativen? Du hast doch erst kürzlich einen Erste-Hilfe-Kurs für deinen Führerschein machen müssen. Was hast du da gelernt?“

  Stimmt! Ich versuche mich zu erinnern und hole Handtücher aus dem Bad, um sie Mikey auf die Wunden zu drücken. Mit der einen Hand versuche ich die Blutungen zu stoppen und mit der anderen wähle ich Sedals Nummer. Er ist der Einzige, der mir hier jetzt helfen kann!

    „Na, Mäuschen. Schon wieder Sehnsucht nach mir?“, höre ich nach ein paar Sekunden seine Stimme aus meinem Handy.

    „Sedal! Du musst mir helfen!“, heule ich ins Telefon. Schluchzend schildere ich ihm die Situation.

    „Hey, bleib ganz ruhig. Ich bin in der Nähe und gleich bei dir. Alles wird gut!“ 


 

Der unflotte Dreier mit dem Baumwollschlüpper“

    Es macht Spaß zu wissen, dass Max uns beobachtet, als wir uns küssen. Gerade als ich in Fahrt komme, hört Nadine auf. Sie lässt die Situation und mich wortlos zurück, steht auf und geht 'rüber zu Max. Ihre Hand greift in seine Haare, als sie sich neben ihn auf die Lehne des Sessels setzt und ihn auf die gleiche Weise küsst, wie sie es eben bei mir gemacht hat. Wobei dies von außen betrachtet um einiges leidenschaftlicher wirkt, als der Kuss mit mir gerade. So ist zumindest mein Gefühl. Ich schätze, ich warte einfach mal ab und schaue, was passiert, da ich gerade nicht so recht weiß, was ich machen soll. Dann sehe ich, wie Nadine Max etwas ins Ohr flüstert und ins Bad geht. Nachdem Nadine um die Ecke verschwunden ist, steht Max auf und kommt zu mir auf die Couch.

  „Hi!“, sage ich überflüssigerweise aufgrund meiner wieder stärker werdenden Unsicherheit, als er sich neben mich setzt.

     „Auch Hi“, grinst er mich schelmisch an.

    Ich frage mich, was Nadine Max ins Ohr geflüstert haben könnte. Die Antwort folgt aber auf dem Fuß. Max schaut mich an und sagt, dass Nadine ihn gebeten habe sich neben mich zu setzen und sich um mich zu kümmern. Da wir beide wissen, um was es geht, wenden wir uns gleichzeitig dem jeweils anderen zu. Unsere Lippen berühren sich und ich habe das Gefühl, dass das Eis endlich gebrochen ist. Der Kuss fühlt sich erstaunlicherweise schön an. Max scheint sich auch langsam in der Situation sicherer zu fühlen, rückt näher zu mir und umarmt mich. Während wir uns küssen, spüre ich, wie seine Hände gefühlvoll an meinem Rücken unter mein Oberteil wandern. Langsam taste ich mich mit meinen Händen auch unter seinem Pullover voran und wir sind voneinander so eingenommen, dass wir erst nicht bemerken, dass Nadine wieder den Raum betreten hat.

    „Hey, ihr zwei Schleckermäulchen!“, ruft sie uns zu. „Ich bin auch noch da!“

    Als ich zu Nadine blicke, fällt mir vor Staunen der Unterkiefer zu Boden und ich glau-be, Max ergeht es nicht anders. Das, was wir sehen, verschlägt uns förmlich den Atem. Nadine steht angelehnt im Türrahmen und hat außer einem schwarzen Negligé nur noch dazu passende 'Halterlose' an. Das Negligé ist so kurz, dass der Blick auf die rasierte Region zwischen ihren Oberschenkeln kaum verdeckt wird. Ihre langen, blonden Haare liegen wie Federn auf den Schultern. Ich fasse es nicht. Wofür war sie denn vorhin im Bad, wenn sie jetzt noch Einen drauflegt? Will sie hier mit Kanonen auf Spatzen schießen? Wir sind doch eh alle schon so heiß, dass wir mit der flachen Hand bügeln könnten. Lasziv kommt sie auf uns zu und setzt sich wie selbstverständlich breitbeinig auf Max' Schoß. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zieht sie ihm routiniert das Hemd aus, während ich wie `Klein Erna´ - immer noch staunend über ihr Outfit - daneben sitze und die Szenerie beobachte.

    Ich finde es sehr erregend zu beobachten und zu spüren, wie sich die beiden direkt neben mir vergnügen. Ich höre das Geräusch ihrer Küsse und Nadines nylonbezogener Unterschenkel berührt aufgrund ihrer Position auf Max, meinen linken Oberschenkel. Um die Bereitschaft zu signalisieren, dass man mit meiner Teilnahme an diesem Spiel rechnen kann, ziehe im Sitzen mein Oberteil aus. In dem Moment, als ich mich daran machen will, mich auch meiner Jeans zu entledigen, erinnere ich mich Gott sei dank wieder an meine `Unterhosen-Problematik´. Ich will diese also - wie geplant - gleichzeitig mit meiner Jeans vom Körper ziehen, was aber leider nicht so funktioniert, wie ich es mir vorstellt hatte. Blöderweise erwische ich nur die Jeans, die ich mit einem Ruck von meiner Hüfte streife. Zu meinem Bedauern bleibt die Unterhose allerdings an ihrem Platz. Ich sehe, dass Max meine Bewegung bemerkt hat und zu mir herüberschaut. Sein Blick schweift auf meine untere Region und ich habe dabei die ernsthaft Befürchtung, dass seine Erektion - die er gerade aufgrund der besonderen Position, die Nadine auf seinem Schoß innehat - verloren geht. Ich würde am Liebsten im Boden versinken, weil ich mich für meine unerotische Unterbekleidung schäme und es für mich kaum schlimmer kommen kann, als in diesem Moment. Obenrum nackt - untenrum mit meiner `Baumwoll-Feinripp-Unnerbux´ und den Jeans um die Knöchel, wie ein verrecktes Kalb auf der Couch zu sitzen. Aber Max legt seine linke Hand auf meinen Oberschenkel und bewegt sie langsam zwischen meine Beine.

    Mit leicht gerötetem Kopf, aber Selbstbewusstsein vortäuschend, grinse ich ihn an, greife noch einmal nach und ziehe die Unterhose samt meiner Jeans und Socken von meinem Körper, um Max durch das Spreizen meiner Beine eine bessere Möglichkeit zu geben - die Stellen - auf die es letztendlich ankommt, leicht zu erreichen. In dem Moment, als er mit seiner Hand dort ankommt, steht Nadine auf, schaut uns beide an und sagt:

    „Ich glaube, wir sollten die Location wechseln. Im Schlafzimmer haben wir mehr Platz.“

Auf dem Weg ins Schlafzimmer entledigt sich Max seiner Wäsche und Nadine zieht ihn sofort, als wir dort angekommen, auf die rechte Seite des Betts und legt sich selbst in die Mitte. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mich neben sie zu legen und die Situation erst einmal wieder nur zu beobachten, was ich aber - wie eben auf der Couch - in diesem Moment als nicht so schlimm empfinde. Ich wüsste auch gar nicht, wie ich mich da integrieren könnte. Während sich die beiden küssen, wandert Nadines Hand zu Max' unterer Region, dessen Schwellkörper nun straff gefüllt sind und bei Nadines Berührung kurz aufstöhnt. Alleine dies zu sehen, macht mich unglaulich heiß und erinnert mich an die Videos, die ich gestern im Netz gesehen habe.

    Nach einiger Zeit rollt sich Max über Nadine hinweg, so dass sie ihre Plätze tauschen und er jetzt direkt neben mir liegt. Er wendet sich mir zu, um mich zu küssen, während er mit seiner Hand zwischen Nadines Beinen aktiv wird. Aber meine Freude darüber, dass ich jetzt auch ins Spiel eingebunden werde, ist leider nur von kurzer Dauer. Denn Nadine stöhnt laut auf und zieht dadurch sofort wieder die Aufmerksamkeit von Max auf sich, der zu ihr 'rüber schaut, um sie dabei zu beobachten, wie sie sich lustvoll seinen Berührungen hingibt. Auch wenn ich dadurch wieder zur Passivität verdammt werde, muss ich zugeben, dass es schon sehr geil aussieht, wie sich Nadine unter Max' Hand windet. 


 

Drin, das Ding“

    Wir wollen uns gerade auf dem Weg zum Geläuf machen, als Justus plötzlich mit Schweißperlen auf der Stirn an uns vorbei in Richtung Kassenhäuschen hetzt.

    „Todsicherer Tipp!“, ruft er uns zu.

   Aus der Entfernung sehe ich, wie Justus einen `Fuffi´ aus der Tasche holt und ihn über den Tresen schiebt. Ich wundere mich, dass er nur die Wettschein-Quittung, aber kein Wechselgeld zurückbekommt.

   „Hat der jetzt echt fünfzig Euro gezockt?“, frage ich Jules.

   Aber der zuckt nur abwertend mit den Schultern und geht in Richtung der Rennbahn. Ich folge ihm und bin gespannt darauf, wie es dort wohl aussieht. Unglaublich!, denke ich, als wir über die kleine Kuppe kommen und sich mir ein riesiges Areal eröffnet.

    „So groß hätte ich mir das aber nicht vorgestellt!“

    „Jaja“, antwortet Jules, „eine Runde ist ungefähr 2000m lang!“

    „Wow!“, antworte ich beeindruckt.

  Ich drehe mich zu den großen Tribünen um, auf denen schon viele Leute Platz genommen haben. Aber auch vor uns stehen unzählige Zuschauer auf der Wiese vor der weißen Plastikumrandung der Bahn, die man Rails nennt, wie Jules erklärt. Man spürt die in der Luft liegende Spannung, als ich aus der Ferne beobachten kann, wie die Pferde mit ihren Jockeys nacheinander in die Startboxen geführt werden. Was aber auch auf einer riesengroßen Leinwand, die direkt vor uns steht, wesentlich detaillierter zu sehen ist. Unweigerlich greife ich nach dem Wettschein in meiner Tasche und sage mir, dass meine beiden Pferde zwar nur Außenseiter sind, aber Jules ja meinte, dass die wesentlich häufiger vorne mit dabei sind, als man vermuten möchte. Ich entschließe mich also dazu, fest daran zu glauben, dass es dieses Mal so kommen wird.

    „Natürlich! Warum auch nicht“, höre ich eine mir wohlbekannte Stimme.

   Als ich nach links schaue, sehe ich Joy. Aus tiefstem Herzen freue ich mich sie zu sehen.

    „Mensch Joy. Mein erstes Pferderennen! Ich bin total aufgeregt!“

    „Ja, ich auch“, sagt sie.

    Ich frage mich allerdings, worauf sie sich freut. Denn mit ihren gerade mal 1,50m wird sie kaum etwas von dem Geschehen mitbekommen. Ich denke noch kurz darüber nach, ob ich sie vielleicht auf meine Schulter nehmen sollte, damit sie etwas sieht. Aber bevor ich ihr den Vorschlag machen kann, höre ich ein dumpfes Geräusch und den Rennbahnkommentator über die Lautsprecherboxen:

   „Boxen auf zum Ferdinand-Leisten-Gedächtnisrennen. Alle Pferde sind gut abgesprungen und Good Fellow übernimmt die Spitze vor Maximus und Tornado. Am Schluss des Feldes Troublemaker.“

      Als die Pferde dann kurze Zeit später an mir vorbeilaufen, kann ich es kaum glauben, als ich sehe und höre, dass eines meiner Pferde ganz vorne liegt und rufe deshalb laut:

     „Lauf, Good Fellow, lauf!“

   Überrascht, dass Pferderennen so kurz sind - aber mehr als erfreut darüber, dass Good Fellow als Erster die Ziellinie passiert, halte ich enthusiastisch meinen Wettschein in die Luft und überlege, ob ich wohl eine Schubkarre brauche, um meinen Gewinn nach Hause zu schaffen.

    „Jaaa, gewonnen!“, rufe ich begeistert.

    Jules schaut mich mitleidig an und sagt:

    „Ne, Hase! Das ist ein 2400m-Rennen, die müssen noch einmal um die Bahn!“

    Ich muss schlucken, da ich kurz davor bin, vor Scham im Boden zu versinken. Aber ich versuche mit den Achseln zuckend die Situation zu überspielen und antworte:

    „Na klar! Weiß ich doch!“

    Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Jules ohne etwas zu sagen seinen Mund zu einem Grinsen formt und weiter das Rennen verfolgt. Die Pferde laufen um den ersten Bogen und entfernen sich von uns in Richtung der Gegengeraden. Die nächsten 1400m passiert nichts Aufregendes und auch die Reihenfolge der Pferde ändert sich nicht. Vom Publikum hört man nur ein leises Grummeln und selbst der Rennbahnsprecher kommentiert den Verlauf des Rennens in dieser Phase mit eher moderater Stimme. Dies ändert sich aber schlagartig, als die Pferde die Zielgerade erreichen. Der Geräuschpegel unter den Tribünendächern und auf der Wiese vor uns steigt exponentiell an.

    „Good Fellow bringt die Pferde in den Einlauf. Gefolgt von Maximus, Tornado, Dark Knight und Little Mountain. Vier Längen hinter dem Feld weiterhin Troublemaker. Noch etwas mehr als 400m und Good Fellow liegt immer noch in Führung vor Maximus und Dark Knight, der außen Boden gut gemacht hat und jetzt Dritter ist. Tornado galoppiert an vierter Stelle, dicht gefolgt von Litte Mountain.“

    Ich höre nicht nur das Getrappel der Pferde näher kommen, sondern spüre auch meinen Herzschlag bis zum Hals. Jules hat recht! Es ist ein wahnsinnig aufregendes Gefühl. Die Menge ist inzwischen aus dem Häuschen und alle brüllen die Namen ihrer Favoriten so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Und es ist so ansteckend, dass ich auch lautstark in Richtung der Pferde rufe:

    „Good Fellow, Dark Knight - LAUFT!“

    Ich hoffe, dass es dieses Mal der rechte Zeitpunkt für meine Anfeuerung ist und nicht wieder ins Fettnäpfchen trete. Das Feld der Pferde kommt immer näher und auf den letzten 200m überschlägt sich fast die Stimme des Rennbahnsprechers.

    Good Fellow in der Bahnmitte mit 1 ½ Längen vor Maximus. Dark Knight ist dichtauf vor Little Mountain und Tornado.“

     Auch Jules springt jetzt auf, schnippst mit den Fingern und brüllt:

    „KOMM, Little Mountain, KOMM SCHON!“

    Ich bin total begeistert darüber, dass meine Pferde tatsächlich im Endkampf sind und es macht sich ein unglaubliches Kribbeln in mir breit, als ich die beiden weiterhin in der vorderen Linie sehe und den Rennbahnsprecher schreien höre:

    „Auf den letzten 100 Metern liegt Good Fellow immer noch in Führung. Dahinter geht jetzt Dark Knight innen an Maximus vorbei und ist knapp eine Länge hinter Good Fellow. Außen kommt Little Mountain angeflogen und geht an Maximus heran und ebenfalls vorbei. Aber vorne kämpfen Good Fellow und Dark Knight, der immer näher kommt, um den Sieg. Good Fellow, Dark Knight, Good Fellow, Good Fellow, Dark Knight. Und, … ja,... Good Fellow schafft es. Er gewinnt knapp vor Dark Knight. Dritter wird Little Mountain vor Tornado, der Maximus noch auf der Linie abfängt.“

    Während die Pferde hinter dem Ziel ausgaloppieren, bin ich mir nicht ganz sicher, was der Ausgang des Rennens für mich und meine Wette zu bedeuten hat. Nach meinen Fauxpas von vorhin bin ich vorsichtig geworden. Aber dafür gibt es keinen Grund! Denn dieses Mal kommt Jules schon auf mich zu geflogen, nimmt mich in den Arm, hebt mich hoch und schreit mir vor Freude ins Ohr:

    „Clara! Du hast gewonnen! Du hast die Zweierwette getroffen. Wie geil ist das denn!“ Er stellt mich wieder auf den Boden und bleibt euphorisch. „Ist das nicht großartig, Clara? Beide Pferde standen am Toto über 100. Das bedeutet, dass du jetzt richtig Asche bekommst.“


 

Don't Let It Go“

    Mit der Erkenntnis, aus dieser Zwickmühle nicht mehr herauszukommen, füge ich mich in mein Schicksal. Jules stimmt schon die ersten Töne auf der Gitarre an, nachdem er mir eine Kopie des Songtextes in die Hand gedrückt hat.

     „Don't let it go...“, singt er und deutet mir mit großen Augen und Kopfnicken an, lauter zu singen.

     „... don't give a damn about it“, singe ich jetzt lauter als zuvor.

   „Ja, super! Mach' weiter!“, baut er mich in einer Passage des Liedes auf, in der kein Gesang ist und er nur Gitarre spielt. Durch seine bestätigenden Blicke, aber mehr noch durch die Bedeutung des Textes, den ich komplett auf mich und mein Leben beziehen kann, traue ich mir immer mehr zu und singe schließlich so laut ich kann.

   „Das klang echt fett!“, sagt Jules mit einem Leuchten in den Augen, als das Stück zu Ende ist. „Deine Stimme passt perfekt zu dem Song. Als ob er für dich gemacht sei.“

     So komisch wie er mich dabei angrinst, bin ich nun endgültig davon überzeugt, dass der Song etwas mit mir zu tun hat und Jules - wie auch immer - irgendwie an mich gedacht haben muss, als er das Stück komponiert hat.

   „Pass auf, Clara! Mir kommt da eine Idee! Lass uns das Fairy Tale für heute Abend vergessen. Ich gehe erst pinkeln, hol' neue Getränke, und wenn wir es noch ein paar Mal geprobt haben, gehen wir zurück ins Studio und nehmen es auf.“

    „Ok“, ist das Einzige, was ich herausbringen kann, als er mit dem Leergut bepackt in der Diele verschwindet. Denken tue ich aber: Oh mein Gott, nicht auch das noch! Ich mach mir doch gleich in die Hose, wenn ich vor dem Mikro stehe!

   „Clara, jetzt hör' auf zu zweifeln“, kommt es von Joy, die an dem kleinen Esstisch mir schräg gegenüber sitzt und mich beobachtet.

   „Sitzt du schon lange hier?“, frage ich sie.

   „So ziemlich“, grinst sie mich an. „Zumindest den ganzen Song über. Ich sagte dir doch, dass du ganz gut singen kannst. Es klingt echt gut. Mach weiter! Ist doch alles super!“

   Als Jules wieder im Wohnzimmer auftaucht, spielen wir Don't Let It Go noch einige Male durch und ich werde immer sicherer.

   „Das war großartig!“, meint er, als er die Gitarre zur Seite legt. „Du gibst dem Song durch deine Stimme ein Ambiente, das einen mit auf die Reise nimmt. Komm mal mit! Das nehmen wir jetzt wirklich mal auf.“

    Wortlos folge ich Jules durch den Flur, am Schlaf- und Badezimmer vorbei, durch die Küche zurück ins Studio.

    „Stell dich mal ans Mikro“, zeigt er in die Ecke, in der ein Paravent steht und den Raum abgrenzt.

  „Jules, ich weiß wirklich nicht...“, starte ich einen letzten Versuch dem Unheil zu entrinnen.

   „Papperlapapp!“, weist er mich mit einem Ton in die Schranken, der keine Widerrede zulässt.

   Bitte! Er wird schon sehen, was er davon hat. Aber vielleicht macht es sogar Spaß. Und wer kann denn schon von sich behaupten, in einem Studio gesungen zu haben. Das sind bestimmt nicht so viele. Während Jules seine technischen Gerätschaften an den Start bringt - `den Riemen auf die Orgel schmeißt´, wie er sagt - nippe ich an meinem Bier und schaue ihm aufmerksam über die Schulter. Es sieht alles total kompliziert aus und ist für mich eine absonderliche, fremde Welt. Auf den Monitoren sehe ich nur kryptische Symbole und bunte Balken.

 „So, Clara. Die Gitarre und meine Stimme habe ich Dienstagnacht schon auf-genommen. Hier hast du einen Kopfhörer. Sag mal was ins Mikrofon, um den Pegel einzustellen.“

   „Jules, ich...“

   „Geh mal näher ran!“

   Widerwillig begebe ich mich ans Mikrofon und sage schüchtern:

   „Hallo!“

   „Alles klar! Ich lass' mal das Playback laufen und du singst einfach im Refrain mit. Und zwar genau so, wie du es eben gemacht hast! Klar soweit?“

   Es ist schon sehr ungewohnt, seine eigene Stimme mit ein wenig Hall durch einen Kopfhörer zu hören. Klingt aber gar nicht schlecht, denke ich, als ich testweise den Refrain zu Jules' Stimme mitsinge. Der Herr Toningenieur fummelt noch an ein paar Reglern herum, setzt sich selbst auch Kopfhörer auf und drückt dann auf Record! Ich setze mir die Flasche Bier an den Hals, um mir durch einen großen Schluck Kölsch noch einmal Mut zu machen und warte zum Rhythmus der Musik mit dem Kopf nickend, auf die Stelle meines ersten Einsatzes. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und will gerade loslegen. Aber anstatt eines gesungenen Wortes kommt nur ein lautes:

    „BUOAARG“ aus mir herausplatzt.

   Bierbedingt ist mir ungewollt ein solcher Rülpser aus meiner Kehle entfahren, dass einem der `Zimt aus der Ohrmuschel fliegt´, wie Jules es formuliert. Mir ist das zuerst mega peinlich, aber als Jules sich vor Lachen kaum noch halten kann, muss ich auch losprusten, was einen fast fünfminütigen Lachflash nach sich zieht. Die weiteren Aufnahmen verlaufen glücklicherweise ohne tonale Aussetzer dieser Art.

   „Jo Clara. Hast du super gemacht und ich habe reichlich Takes, um was Schönes basteln zu können. Ich werde das morgen schneiden und einen Rough Mix schrauben“, sagt Jules nach ca. einer Stunde.

    Na toll, jetzt redet der schon wieder chinesisch.

   „Takes sind die einzelnen Aufnahmen von dir, Rough Mix bedeutet vorläufiger Mix und `schrauben´ leitet sich aus den Handbewegungen an den Drehreglern ab, die man beim Mixen betätigt“, wie Jules mir dann aber auf mein gewohntes „Hä?“ erklärt.

    Er meint auch noch, dass ich den Rülpser auf jeden Fall als neuen Klingelton für mein Handy nehmen solle, damit ich mich immer an meine erste Aufnahme-Session in einem Studio erinnere. Da hat er sich aber geschnitten, der Komiker. Aber lustig finde ich die Vorstellung schon, irgendwo zu sein und durch mein Handy mit diesem lauten Rülpser darüber informiert zu werden, dass mich jemand sprechen möchte.